Risikobewertung - Tücken der Statistik

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Frosch (Archiv)
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Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Frosch (Archiv) » Di Dez 12, 2017 3:51 pm

Ein alter Artikel aus dem Spiegel zur Risikobewertung - es ist tückisch. Und ich denke, es ist wichtig für alle hier.



http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/medizinische-tests-und-statistik-denken-sie-immer-falsch-positiv-a-1087042.html



"Regelrecht paradox geht es zu, wenn viele Menschen auf eine seltene Krankheit getestet werden. Stellen wir uns dazu vor, dass - etwa als Prophylaxemaßnahme bei einer Schuluntersuchung - an einem Morgen in den Schulen Schleswig-Holsteins ein Scharlachschnelltest bei Erstklässlern durchgeführt werden wird. Spezifität und Sensitivität sollen wieder bei je 95 Prozent liegen.



Von den 20.000 Schülern, die sich auf die Krankheit testen lassen, haben vielleicht lediglich 100 tatsächlich Scharlach. Was diese niedrige sogenannte Basisrate für Auswirkungen hat, lässt sich gut an folgendem Baumdiagramm nachvollziehen.

...

Von den insgesamt 1090 Schülern, die ein positives Testergebnis erhalten, haben also lediglich 95 tatsächlich Scharlach, also gerade einmal 8,7 Prozent! Fast 1000 kerngesunde Schüler würden also als vermeintlich erkrankt an Scharlach nach Hause geschickt.



Und hier wird es paradox: Der Test zeigt mit 95-prozentiger Sicherheit eine Infektion richtig an. Und trotzdem ist nicht einmal einer von zehn positiv Getesteten tatsächlich betroffen.



Selbst bei 99 Prozent Sensitivität und Spezifität - Werte, die eigentlich eine extrem hohe Güte des Tests anzeigen - läge der Anteil falsch-positiv getesteter Personen aufgrund der geringen Basisrate immer noch bei 66,8 Prozent."



"Dabei ist es für die Einordnung unerlässlich zu wissen, dass ein positives Testergebnis nicht bedeuten muss, dass tatsächlich eine schwere Krankheit vorliegt. Wie in unserem Beispiel kann es sogar eher die Regel sein, dass der Test positiv ist, obwohl keine Erkrankung vorliegt. Und das trotz hoher Sensitivität und Spezifität. In jedem Fall sollten die statistischen Hintergründe behandelnden Ärzten und auch den Patienten bewusst sein, um eine unnötige Verunsicherung und Ängste zu vermeiden."

Edchen (Archiv)
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Edchen (Archiv) » Di Dez 12, 2017 8:30 pm

Das stimmt wirklich, da wird nicht aufgeklärt und selbst im Netz findet man fast nichts dazu. Es wird immer nur im Rahmen von zum Beispiel bei Morbus Wegener alles erklärt, wie es sich verhält, wenn die Leute schon erkrankt sind. Nur bei Euroimmun auf diversen Unterseiten habe ich dazu nach tagelanger Suche was gefunden. Und wenn man dann noch liest, dass gesagt wird, diese AAK kommen nie ohne Grund vor, und das noch als Aussage einer Ärztin, ist ja logisch, dass man sich dann Gedanken macht. Und selbst so eine Statistik hält mich jetzt nicht davon ab, das nochmal zur Sprache zu bringen bei meinem nächsten Hausarztbesuch, denn es könnte ja trotzdem sein, dass man betroffen ist.

Frosch (Archiv)
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Frosch (Archiv) » Mi Dez 13, 2017 12:07 pm

Statistik ist wirklich trickreich - es war nicht Bestandteil meines Studiums, ich bin mir ziemlich sicher, dass Mediziner da auch nicht viel von hören.



Laut Dr. Kirsten de Groot "Nach neueren Untersuchungen leiden ca. 60 Menschen pro 1 Mio. Einwohner an einer Wegenerschen Granulomatose." Ich denke mal sie meint Neuerkrankungen.



Das wären 60*80 4800 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland. Wieviele Rheumathologen und Nephrologen gibt es, die routinemäßig Anca-Tests machen? 2000? Wenn die nur durchschnittlich 100 Tests pro Jahr machen (glaube ich nicht, die testen mehr) gibt es eine falsch positiv Rate von 10000. D.h. dass deine statistische Wahrscheinlichkeit mit c-anca tatsächlich Wegener zu haben sehr gering ist.



Statistik ist bei seltenen Krankheiten einfach Unsinn. Du kannst Wegener mit oder ohne c-anca haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass du es überhaupt hast ist mit oder ohne c-anca gering.



Nur - Je mehr getestet wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass Patienten sinnlos durch eine Chemotherapie geschädigt werden.

Ingeborg
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Ingeborg » Mi Dez 13, 2017 12:57 pm

Ich halte diesen Artikel nicht für geeignet, für jemanden im Falle eines Verdachts auf eine Vaskulitis-Form allein aufgrund eines Bluttests Bedeutung zu haben. Es geht zum einen nicht um Schnelltests oder Massentests (wer würde denn sowas finanzieren wollen und warum?). Die medizinische Disziplin, auch in Bezug auf Seltene Erkrankungen, ist m.W. aus Erfahrungen an Betroffenen und eher nicht aus Statiken der Bevölkerung entstanden.

Zum andern kommen Patienten zum Rheumatologen in aller Regel mit Symptomen, die sie nicht einordnen können. Aus diesen Symptomen entnimmt der internistische Rheumatologe und Spezialist für Vaskulitis einen möglichen Verdacht in eine bestimmte Richtung und macht Bluttests. Dabei behält er im Auge, an was er noch zu denken hat, um ähnliche oder gleichgelagerte Erkrankungen, die diese Symptome machen, auszuschließen.



Ist ein Bluttestest positiv, stellt der Arzt unter Zusammenschau mit den Symptomen, den Untersuchungsergebnissen, je nachdem, aus Sonographie, CT oder MRT u.a., wenn man "Glück" hat, eine Diagnose. Ggf. wird noch zusätzlich eine Biopsie gemacht, soweit sich das Organ eignet. Der Patient bekommt eine Therapie.



Ist der Bluttest positiv, genügen jedoch die Symptome oder/und die Untersuchungen nicht, gibt es keine Diagnose. Der Patient bekommt keine Therapie.



Die Furcht, auf einen allein auf den Bluttest überreagierenden Rheumatologen zu treffen und den Patienten auf Verdacht den möglichen Nebenwirkungen der Therapie auszusetzen, halte ich für sehr gering.





In diesem Artikel wird einiges durcheinander gebracht, insbesondere die Bedeutung der Begriffe Sensitivität und Spezifität.



Was aber durchaus enthalten ist, jedoch leicht (und gern?) überlesen wird, sind die folgenden im Artikel eingebauten Sätze:



... "OHNE WEITERE ÄRZTLICHE EINSCHÄTZUNG könnte es im schlimmsten Fall eine unnötige Behandlung mit Antibiotika erhalten." ....



Und: "Da die Kinder anschließend sowieso GRÜNDLICH VOM ARZT UNTERSUCHT werden, dürfte andererseits eine falsch-negative Prognose in der Regel kein Problem sein." ...





Im konkreten Falle ist E. durch das Forum bereits am 2.12. informiert, dass Bluttest allein nichts aussagen und Symptome, bildgebende Verfahren, Biopsien hinzukommen müssen. Sie weiß, dass auch ANCA fehlen kann, was eine Vaskulitis aber nicht ausschließt. Außerdem ist sie informiert, dass sie einen vaskulitis-kundigen Rheumatologen braucht und darüber hinaus, wo sie sie findet.





Aus den Kommentaren einiger Personen, die vermutlich mit den angesprochenen Dingen beruflich eher zu tun haben, zitiere ich mal zweie:

1--"Dieser Artikel könnte jetzt aber den Eindruck bei positiv Getesteten entstehen lassen, dass nichts zu befürchten haben! Das kann nach hinten losgehen!"

(Auch dies wurde im Forum bereits angemerkt. Ich halte solche Aussagen, noch unterlegt mit dem "passenden" Artikel, für gefährlich, besonders für Neulinge.)



2--"... Geben Sie zu, dass Sie das Publikum gar nicht informieren wollen. Wenn ich's richtig seh, wollen Sie die Leute nur durcheinander bringen."

(Dem kann ich nur zustimmen; dieser Artikel ist praxisfern.)
Man muß sich von sich selbst auch nicht alles gefallen lassen.
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Ingeborg
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Ingeborg » Mi Dez 13, 2017 1:19 pm

Ein Beispiel dafür, was -beispielhaft und über die Zeit- für Statistiken geeignet wäre und nichts zum Befinden der Indianer im Winter aussagt, dafür zum Herdentrieb:

;-)

Gehen 2 Indianer zu ihrem Medizinmann und fragen: Wie wird denn der Winter in diesem Jahr?



Der Medizinmann schmeißt einen Haufen kleiner Steinchen auf den Boden und sagt: Das wird ein sehr kalter Winter. Sammelt viel Holz zum Heizen.



Am anderen Tag kommen noch einige Indianer zu ihm und fragen ihn dasselbe. Auch ihnen sagt er: sammelt viel Holz.



Nun kommen auch die Indianer von anderen Stämmen, und immer sagt er dasselbe: sammelt viel Holz.



Der Medizinmann wird nach so vielen Anfragen allmählich unsicher und denkt sich: Ich muß doch mal beim Wetteramt nachfragen, ob das auch wirklich richtig ist.



Er geht zum Telefon und fragt den Herrn vom Wetteramt: Können Sie mir bitte sicher sagen, wie dieses Jahr der Winter wird?



Der Herr vom Wetteramt erwidert: Es wird ein ganz harter Winter. Die Indianer sammeln Holz wie die Verrückten.
Man muß sich von sich selbst auch nicht alles gefallen lassen.
(Viktor Frankl, 1905-1997)

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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Hartmut (Archiv) » Mi Dez 13, 2017 1:25 pm

@ Ingeborg



👍👍👍👍👍👍👍👍



LG.HARTMUT

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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Administrator » Mi Dez 13, 2017 4:17 pm

150 Punkte von 100 möglichen

:-)

Dany_CH (Archiv)
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Dany_CH (Archiv) » Mi Dez 13, 2017 4:28 pm

Hallo Frosch



ich habe schon lange nicht mehr einen solchen Blödsinn gelesen, wie du hier schreibst!



Ich wünsche hier allen einen geruhsamen statistikfreien Abend



Dany



PS ich arbeite seit rund 20 Jahren im Bundesamt für Statistik in der Schweiz

PSS jeder Medizinstudent im 1. Studienjahr kann dir deine Fehler aufzeigen

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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von bernddmc (Archiv) » Mi Dez 13, 2017 5:08 pm

Bald ist Weihnachten !!!



LG

Bernd

Ingeborg
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Re: Risikobewertung - Tücken der Statistik

Beitrag von Ingeborg » Mi Dez 13, 2017 7:19 pm

..und vorher hat man uns um den 4. Advent betrogen. Deshalb muß man am 3. Advent gut aufpassen, dass man nicht erschrickt, wenn man die Tür aufmacht und der Weihnachtsmann vor der Türe steht.
Man muß sich von sich selbst auch nicht alles gefallen lassen.
(Viktor Frankl, 1905-1997)

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